Von Gina Kolata / New York Times
Dr. Brooke Herndon, eine Internistin im Dartmouth-Hitchcock Medical Center, konnte nicht aufhören zu husten. Ab Mitte April letzten Jahres hustete sie zwei Wochen lang, scheinbar ununterbrochen, gefolgt von einer weiteren Woche, in der sie sporadisch hustete und damit, wie sie sagte, jeden nervte, der mit ihr arbeitete.
Schon bald hatte Dr. Kathryn Kirkland, eine Spezialistin für Infektionskrankheiten in Dartmouth, einen beunruhigenden Gedanken: Sah sie vielleicht den Beginn einer Keuchhusten-Epidemie? Ende April husteten auch andere Mitarbeiter des Krankenhauses – schwerer, hartnäckiger Husten ist ein Kennzeichen von Keuchhusten. Und wenn es Keuchhusten war, musste die Epidemie sofort eingedämmt werden, weil die Krankheit für die Babys im Krankenhaus tödlich sein und bei den gebrechlichen und verletzlichen erwachsenen Patienten zu einer Lungenentzündung führen könnte.
Es war der Beginn einer bizarren Episode im medizinischen Zentrum: die Geschichte der Epidemie, die keine war.
Monatelang dachten fast alle Beteiligten, dass im medizinischen Zentrum ein riesiger Keuchhustenausbruch mit weitreichenden Folgen stattgefunden hatte. Fast 1.000 Mitarbeiter des Krankenhauses in Lebanon, New Hampshire, wurden einem vorläufigen Test unterzogen und von der Arbeit beurlaubt, bis die Ergebnisse vorlagen. 142 Personen, darunter auch Dr. Herndon, wurde mitgeteilt, dass sie anscheinend die Krankheit haben und Tausende erhielten Antibiotika und eine Impfung zum Schutz. Krankenhausbetten wurden außer Betrieb genommen, darunter auch einige auf der Intensivstation.
Etwa acht Monate später waren die Mitarbeiter des Gesundheitswesens verblüfft, als sie eine E-Mail von der Krankenhausverwaltung erhielten, in der ihnen mitgeteilt wurde, dass die ganze Sache ein falscher Alarm war.
Kein einziger Fall von Keuchhusten wurde mit dem entscheidenden Test – der Anzucht des Bakteriums Bordetella pertussis – im Labor bestätigt. Stattdessen dürften die Mitarbeiter des Gesundheitswesens von gewöhnlichen Atemwegserkrankungen wie einer Erkältung betroffen gewesen sein.
Im Rückblick auf den Vorfall sagen nun Epidemiologen und Spezialisten für Infektionskrankheiten, dass das Problem darin bestand, dass sie zu viel Vertrauen in einen schnellen und hochempfindlichen molekularen Test setzten, der sie in die Irre führte.
Experten für Infektionskrankheiten weisen darauf hin, dass solche Tests immer häufiger zum Einsatz kommen und möglicherweise der einzige Weg sind, um bei der Diagnose von Krankheiten wie Keuchhusten, Legionärskrankheit, Vogelgrippe, Tuberkulose und SARS eine rasche Antwort zu erhalten und zu entscheiden, ob eine Epidemie im Gange ist.
Es gibt keine nationalen Daten über Pseudo-Epidemien, die durch ein übermäßiges Vertrauen auf solche molekularen Tests verursacht werden, sagte Dr. Trish M. Perl, eine Epidemiologin am Johns Hopkins und ehemalige Präsidentin der Society of Health Care Epidemiologists of America. Aber, so sagt sie, Pseudo-Epidemien kommen immer wieder vor. Der Fall in Dartmouth mag einer der größten gewesen sein, doch er war keineswegs eine Ausnahme, erklärte sie.
Im letzten Herbst gab es einen ähnlichen Keuchhustenausbruch im Children’s Hospital in Boston, von dem 36 Erwachsene und 2 Kinder betroffen waren. Endgültige Tests konnten jedoch keinen Keuchhusten feststellen.
“Es ist ein Problem; wir wissen, dass es ein Problem ist”, sagte Dr. Perl. “Meine Vermutung ist, dass das, was in Dartmouth passiert ist, immer häufiger vorkommen wird.”
Viele der neuen molekularen Tests sind schnell aber technisch anspruchsvoll, und jedes Labor kann sie auf seine eigene Weise durchführen. Diese Tests, die sogenannten “Eigenkreationen”, sind nicht kommerziell erhältlich und es gibt keine guten Schätzungen über ihre Fehlerquoten. Doch gerade ihre Empfindlichkeit macht falsch-positive Ergebnisse wahrscheinlich und wenn Hunderte oder Tausende von Menschen wie in Dartmouth getestet werden, können falsch-positive Ergebnisse den Anschein einer Epidemie erwecken.
“Mit den neuen molekularen Tests befindet man sich ein wenig im Niemandsland”, sagt Dr. Mark Perkins, Spezialist für Infektionskrankheiten und wissenschaftlicher Leiter der Foundation for Innovative New Diagnostics, einer gemeinnützigen Stiftung, die von der Bill and Melinda Gates Foundation unterstützt wird. “Es hängt alles von der Genauigkeit der Ergebnisse ab.”
Das führt natürlich zu der Frage, warum man sich überhaupt auf sie verlassen sollte. “Auf den ersten Blick sollten sie es natürlich nicht tun”, sagte Dr. Perl. Doch wenn man Antworten braucht und ein Organismus wie das Keuchhustenbakterium heikel und nur schwer im Labor zu züchten ist, “hat man keine großen Möglichkeiten”.
Das Warten auf das Wachstum der Bakterien kann Wochen dauern aber der schnelle molekulare Test kann fehlerhaft sein. “Es ist fast so, als ob man versucht, das geringste Übel zu wählen”, fügt Dr. Perl hinzu.
In Dartmouth entschied man sich für einen PCR-Test, für Polymerase-Kettenreaktion. Dabei handelt es sich um einen molekularen Test, der bis vor kurzem auf molekularbiologische Labors beschränkt war.
“Das ist in etwa das, was derzeit geschieht”, sagte Dr. Kathryn Edwards, eine Spezialistin für Infektionskrankheiten und Professorin für Kinderheilkunde an der Vanderbilt University. “Das ist die Realität da draußen. Wir versuchen herauszufinden, wie wir Methoden nutzen können, die bisher den Wissenschaftlern an den Laboren vorbehalten waren.”
Die Keuchhusten-Geschichte in Dartmouth zeigt, was dabei herauskommen kann.
Zu behaupten, dass die Angelegenheit störend war, sei eine Untertreibung, sagte Dr. Elizabeth Talbot, stellvertretende Epidemiologin für das New Hampshire Department of Health and Human Services.
“Sie können sich das nicht vorstellen”, sagte Dr. Talbot. “Ich hatte damals das Gefühl, dass uns dies einen Vorgeschmack darauf gab, wie es während einer pandemischen Grippeepidemie sein könnte.”
Dennoch, so sagen Epidemiologen, sei einer der beunruhigendsten Aspekte der Pseudo-Epidemie, dass alle Entscheidungen zu dieser Zeit so vernünftig erschienen.
Dr. Katrina Kretsinger, eine wissenschaftliche Epidemiologin bei den Centers for Disease Control and Prevention, die zusammen mit ihrer Kollegin Dr. Manisha Patel an dem Fall gearbeitet hat, gibt den Ärzten in Dartmouth keine Schuld.
“Das Problem war nicht, dass sie überreagiert oder etwas Unangemessenes getan haben,” erklärte Dr. Kretsinger. Vielmehr ginge es darum, dass es oft keine Möglichkeit gäbe, frühzeitig eine Epidemie zu erkennen.
Vor den 1940er Jahren, als ein Keuchhustenimpfstoff für Kinder eingeführt wurde, war Keuchhusten eine der häufigsten Todesursachen bei Kleinkindern. Die Impfung führte zu einem 80-prozentigen Rückgang der Krankheit, konnte sie aber nicht vollständig eliminieren. Das liegt daran, dass die Wirksamkeit des Impfstoffs nach etwa einem Jahrzehnt nachlässt, und obwohl es inzwischen einen neuen Impfstoff für Jugendliche und Erwachsene gibt, kommt er erst jetzt zum Einsatz. Keuchhusten sei immer noch ein Problem, so Dr. Kretsinger.
Die Krankheit hat ihren Namen von ihrem hervorstechendsten Merkmal: Die Patienten können husten und husten und husten, bis sie nach Luft schnappen müssen und dabei Geräusche wie ein Keuchen von sich geben. Der Husten kann derart lange andauern, dass einer der gebräuchlichen Namen für Keuchhusten der 100-Tage-Husten war, erklärte Dr. Talbot.
Aber weder langes und starkes Husten noch Keuchen ist einzigartig für Keuchhusten-Infektionen und viele Menschen mit Keuchhusten haben Symptome, die denen einer Erkältung ähneln: eine laufende Nase oder ein gewöhnlicher Husten.
“Fast alles an der klinischen Darstellung von Keuchhusten, besonders im Frühstadium, ist nicht sehr spezifisch”, erklärte Dr. Kirkland.
Das war das erste Problem bei der Feststellung, ob es in Dartmouth eine Epidemie gab. Das zweite Problem war der PCR-Test, der Schnelltest zur Diagnose der Krankheit, sagte Dr. Kretsinger.
Sie erläutert, dass es bei Keuchhusten “wahrscheinlich 100 verschiedene PCR-Protokolle und -Methoden gibt, die im ganzen Land verwendet werden” und dass es unklar ist, wie oft eine von ihnen zutreffend ist. “Wir hatten eine Reihe von Ausbrüchen, bei denen wir glauben, dass es sich trotz des Vorhandenseins von PCR-positiven Ergebnissen nicht um Keuchhusten handelte”, fügte Dr. Kretsinger hinzu.
Als in Dartmouth die ersten verdächtigen Pertussis-Fälle auftauchten und der PCR-Test Pertussis bestätigte, glaubten die Ärzte dies. Die Ergebnisse scheinen mit den Symptomen der Patienten völlig übereinzustimmen.
“So fing die ganze Sache an”, berichtet Dr. Kirkland. Dann beschlossen die Ärzte, auch Menschen zu testen, die keinen starken Husten hatten.
“Weil wir Fälle hatten, von denen wir dachten, dass es sich um Keuchhusten handelte und weil wir gefährdete Patienten im Krankenhaus hatten, haben wir unsere Alarmgrenze gesenkt”, sagte sie. Jeder, der einen Husten hatte, wurde einem PCR-Test unterzogen, ebenso wie jeder mit einer laufenden Nase, der mit Hochrisikopatienten wie Säuglingen arbeitete.
“So kamen wir auf 134 Verdachtsfälle”, verriet Dr. Kirkland. Und das, fügte sie hinzu, sei der Grund gewesen, warum 1.445 Mitarbeiter des Gesundheitswesens schließlich Antibiotika erhielten und 4.524 Mitarbeiter des Krankenhauses, oder 72 Prozent aller Mitarbeiter des dortigen Gesundheitswesens, innerhalb weniger Tage gegen Keuchhusten geimpft wurden.
“Wenn wir dort aufgehört hätten, wären wir uns wohl alle einig gewesen, dass wir einen Keuchhustenausbruch hatten und ihn im Zaum gehalten haben”, sagte Dr. Kirkland.
Aber die Epidemiologen des Krankenhauses und der Bundesstaaten New Hampshire und Vermont beschlossen, zusätzliche Schritte zur Bestätigung zu unternehmen, um sicherzustellen, dass es sich wirklich um Keuchhusten handelte.
Die Dartmouth-Ärzte schickten Proben von 27 Patienten, die ihrer Meinung nach an Keuchhusten erkrankt waren, an die staatlichen Gesundheitsämter und die Centers for Disease Control (CDC). Dort versuchten die Wissenschaftler, die Bakterien zu züchten – ein Prozess, der Wochen dauern kann. Schließlich hatten sie ihre Antwort: Es gab keinen Keuchhusten in einer der Proben.
“Wir dachten: Das ist aber seltsam”, sagte Dr. Kirkland. “Vielleicht ist es der Zeitpunkt der Kultivierung, vielleicht ist es ein Transportproblem. Warum versuchen wir es nicht mit einem serologischen Test? Sicherlich sollte eine Person nach einer Keuchhusteninfektion Antikörper gegen die Bakterien entwickeln.”
Sie konnten nur von 39 Patienten geeignete Blutproben bekommen – die anderen hatten den Impfstoff bekommen, der selbst für Antikörper gegen Keuchhusten sorgt. Aber als die CDC diese 39 Proben untersuchten, berichteten deren Wissenschaftler, dass nur eine davon erhöhte Antikörperwerte zeigte, die auf Keuchhusten hindeuten.
Das Seuchenzentrum führte ebenfalls zusätzliche Tests durch, einschließlich molekularer Tests, um nach Merkmalen der Keuchhustenbakterien zu suchen. Die Wissenschaftler des Seuchenzentrums führten auch zusätzliche PCR-Tests an Proben von 116 der 134 Personen durch, bei denen ein Keuchhusten vermutet wurde. Nur ein PCR war positiv, doch andere Tests zeigten nicht, dass diese Person mit Keuchhustenbakterien infiziert war. Das Seuchenzentrum befragte die Patienten auch eingehend, um festzustellen, welche Symptome sie hatten und wie sie sich entwickelten.
“Das zog sich über Monate hin”, erklärte Dr. Kirkland. Aber am Ende war die Schlussfolgerung klar: Es gab keine Pertussis-Epidemie.
“Wir waren alle etwas überrascht”, so Dr. Kirkland, “und wir wurden in einer sehr frustrierenden Situation zurückgelassen, was wir bei einem erneuten Ausbruch tun sollten.”
Dr. Cathy A. Petti, eine Spezialistin für Infektionskrankheiten an der Universität von Utah, meinte, die Geschichte habe eine klare Lehre.
“Die zentrale Botschaft ist, dass jedes Labor anfällig für falsch-positive Ergebnisse ist”, sagte Dr. Petti. “Kein einzelnes Testergebnis ist absolut und das ist sogar noch wichtiger bei einem Testergebnis, das auf PCR basiert.”
Was Dr. Herndon betrifft, so weiß sie nun, dass sie aus dem Schneider ist.
“Ich dachte, ich könnte die Epidemie verursacht haben”, sagte sie.
Am 22.01.2007 erschienen auf: https://www.nytimes.com/2007/01/22/health/22whoop.html
Übersetzung: Quer gedacht