Wie die Fixierung auf Sicherheit zu psychischen Erkrankungen und Tyrannei führt

Man hat unserem Zeitalter schon viele Bezeichnungen gegeben, doch am ehesten kann man es als Zeitalter der Feiglinge bezeichnen, wenn man die immense Angst, Besorgnis und Hilflosigkeit bedenkt, die die meisten Menschen angesichts selbst banaler Bedrohungen an den Tag legen. Wir sind keine Generation, die mutig und heldenhaft in eine ungewisse Zukunft geht. Stattdessen fürchten sich die meisten Menschen vor der Zukunft und ziehen Sicherheit, Komfort und Bequemlichkeit einem risikofreudigen, experimentierfreudigen und freien Leben vor. Oder wie es der Soziologe Frank Furedi im 21. Jahrhundert formuliert: Url

“Junge Menschen werden dazu erzogen, sich schwach und unsicher zu fühlen, und daher ist das bestimmende Merkmal der gegenwärtigen Version des Menschseins im Westen des 21. Jahrhunderts seine Verletzlichkeit. Obwohl die Gesellschaft immer noch das Ideal der Selbstbestimmung und der Autonomie hochhält, werden die damit verbundenen Werte zunehmend von einer Botschaft überlagert, die die Qualität der menschlichen Schwäche betont. Und wenn die Verletzlichkeit tatsächlich das bestimmende Merkmal des Menschen ist, dann folgt daraus, dass Angst der Normalzustand ist.” Url

Frank Furedi, How Fear Works

Die Angst vor der Ungewissheit, Zukunftsängste und die Vorstellung, verletzlich, schwach und zerbrechlich zu sein, sind kein Rezept für ein individuelles oder gesellschaftliches Wohlergehen, sondern fördern psychische Krankheiten und ebnen den Weg für eine autoritäre Herrschaft. Url

Die Welt würde davon profitieren, wenn mehr Menschen bereit wären, ein wenig gefährlicher zu leben. Denn Gefahr als Begleiterscheinung bei der Verfolgung lohnender Ziele oder bei der Verteidigung von Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Frieden ist lebensfördernd. Und wie es der römische Historiker Tacitus ausdrückte: Url

“Der Wunsch nach Sicherheit steht jedem großen und edlen Unternehmen entgegen.” Url

Tacitus, Annals, Book XV

Nicht alle Gesellschaften haben jedoch der Sicherheit einen so hohen Stellenwert auf der Werteskala eingeräumt wie die moderne westliche Welt. Viele prosperierende Gesellschaften der Vergangenheit betrachteten die Sicherheit nur als zweitrangig und zeigten eine bemerkenswerte Fähigkeit, angesichts einer ungewissen Zukunft Risiken einzugehen und in der Gegenwart von Gefahren Mut und Tapferkeit zu zeigen. Url

“In der Geschichte gehörten einige der wohlhabendsten Gesellschaften – das antike Athen, das Italien der Renaissance, das Großbritannien des 19. Jahrhunderts – zu denen, die dem Experimentieren und dem Eingehen von Risiken am meisten zugeneigt waren.” Url

Frank Furedi, How Fear Works

Wenn der gegenteilige Ansatz verfolgt und Sicherheit der Risikobereitschaft vorgezogen wird, entfaltet sich das menschliche Potenzial nicht, sondern wird gehemmt, denn für die Entwicklung des Einzelnen und den Fortschritt der Spezies sind die Erkundung des Unbekannten und das Experimentieren mit neuen Interaktionsmöglichkeiten mit der Welt unabdingbar. Das bedeutet, Risiken einzugehen und sich der Gefahr zu stellen. Dies ist jedoch ein Preis, der gezahlt werden muss, da die Alternative darin besteht, in der Enge einer immer kleiner werdenden Komfortzone zu stagnieren, körperlich und geistig zurückzubleiben und Opfer von Angststörungen, Depressionen oder anderen Krankheitsbildern der Verzweiflung zu werden. Url

Ein weiteres Manko eines Zukunftskonzepts, das verstärkt auf Sicherheit setzt, ist der fruchtbare Boden für eine tyrannische oder gar totalitäre Herrschaft. Denn wie Alexander Hamilton bekanntlich feststellte: Url

“Um sicherer leben zu können, ist man schließlich bereit, das Risiko einzugehen, weniger frei zu sein.” Url

Alexander Hamilton, The Federalist Papers

Wenn eine Gesellschaft die Sicherheit zu einem Wert erster Ordnung erhebt, wird die Freiheit zwangsläufig zu einem Wert zweiter Ordnung degradiert, der von den Machthabern mit Füßen getreten werden kann, die im Laufe der Geschichte ihre tyrannischen Absichten mit der Behauptung verschleiert haben, eine Gesellschaft sicherer machen zu wollen. Was die Sache noch schlimmer macht, ist eine Gesellschaft, die die Menschen dazu erzieht, sich vor der Zukunft zu fürchten und sich von der Ungewissheit einschüchtern zu lassen, so dass die Massen Autoritätspersonen zu ihrem Schutz willkommen heißen oder offen nach ihnen rufen. Oder wie Furedi anmerkt: Url

“Die Menschen von der Last der Freiheit zu befreien, damit sie sich sicher fühlen, ist ein wiederkehrender Aspekt in der Geschichte des Autoritarismus.” Url

Frank Furedi, How Fear Works

Denn eine Gesellschaft, die auf Sicherheit setzt, ist auch eine Gesellschaft, die auf Tyrannei ausgerichtet ist. Url

Es liegt an den Befürwortern der Freiheit, einen heroischeren Ansatz für das Leben zu wählen. Denn wenn die bedrohlichen Wolken autoritärer Herrschaft den Horizont verdunkeln und nicht mehr Menschen bereit sind, im Dienste von Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und sozialer Zusammenarbeit Risiken einzugehen und Gefahren auf sich zu nehmen, dann wird sich die Macht der Tyrannen nur noch verfestigen, oder wie Jon Stewart Mill es ausdrückte: Url

“Ein Mensch, der nichts hat, für das er bereit wäre zu kämpfen, und dem nichts wichtiger ist als seine persönliche Sicherheit, ist eine armselige Kreatur ohne die Chance, frei zu sein; außer er wird es und bleibt es durch die Anstrengung jener, die größer sind als er selbst.” Url

John Stuart Mill, Principles of the Political Economy

Als Vorbilder für die Aufgabe, heldenhafter zu leben, können wir auf die alten Griechen blicken, eine Zivilisation, die Sicherheit zu Recht als sekundären und nicht als primären Wert betrachtete und die Risikobereitschaft und das Eingehen von Gefahren als moralisch lobenswert ansah. Url

“Die Gefahr ist maßgebend, und schließlich hat alle Größe ihre Wurzeln im Risiko.” Url

Albert Camus, Ressistance, Rebellion and Death

Friedrich Nietzsche war ebenfalls ein Verfechter dieser klassischen Lebensauffassung und lobte den Athener Anführer Perikles, der in seiner berühmten Grabrede die “Gleichgültigkeit und Geringschätzung für die Sicherheit des Körpers und des Lebens” der Athener feierte. Im Gegensatz dazu steht die moderne Welt, in der es, um es mit den Worten des Schriftstellers Christopher Coker auszudrücken, heißt: Url

“Wir neigen dazu, die mutigen Menschen, die für Sicherheit eintreten, der Fülle ihres Lebens zu berauben, um die Enge unseres eigenen Lebens zu rechtfertigen.” Url

Christopher Coker, The Warrior Ethos

Glücklicherweise müssen wir nicht darauf warten, dass Politiker Gesetze erlassen, die uns eine mutigere Lebensweise erlauben, es reicht, wenn wir auf diese Weise leben. Wir müssen die ungewisse Zukunft nicht nur als eine Quelle der Bedrohung, sondern auch der Hoffnung und der Möglichkeiten betrachten, und wir müssen das Eingehen von Risiken als gerechtfertigt ansehen, wenn es der Verteidigung von Werten oder der Verfolgung lohnender Ziele dient. Url

Indem wir der Sicherheit den ihr gebührenden Platz als zweitrangigen Wert einräumen, werden wir nicht länger als hilfloses Bauernopfer leben, das von der Jugend bis ins hohe Alter von einer Autoritätsperson gehätschelt werden muss, und wir werden die Fähigkeit zurückgewinnen, den Verlauf unseres Lebens zu gestalten. Wir werden psychologisch reifen und besser gerüstet sein für alles, was die Zukunft bringt, denn wie Nietzsche erklärt: Url

“…die Gefahr, die uns unsre Hilfsmittel, unsere Tugenden, unsere Wehr und Waffen, unseren Geist erst kennen lehrt – die uns zwingt, stark zu sein … Erster Grundsatz: man muss es nötig haben, stark zu sein: sonst wird man’s nie.” Url

Friedrich Wilhelm Nietzsche, Götzen-Dämmerung

Auch wenn das Eingehen größerer Risiken und das Spiel mit der Gefahr das Leben verkürzen können, ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, dass ein langes Leben nicht unbedingt ein gutes Leben ist. Ein sicheres Leben ohne echte Herausforderungen und ohne Abenteuer ist träge und führt dazu, dass Körper und Geist in Abgestumpftheit, Wiederholung, Langeweile und Stagnation verkümmern – das ist kein Leben, sondern bloßes Dasein, oder wie es der römische Stoiker Seneca ausdrückte: Url

“…es gibt keinen Grund für Euch zu denken, dass ein Mensch lange gelebt hat, weil er graue Haare oder Falten hat; er hat nicht lange gelebt – er hat lange existiert”. Url

Seneca, Von der Kürze des Lebens – De brevitate vitae

Abgesehen davon, dass sie uns hilft, ein erfüllteres Leben zu führen, kann eine beherzte Bereitschaft, Risiken einzugehen und Gefahren auf sich zu nehmen, uns zu einer Quelle der Wohltätigkeit für die Menschheit machen. Denn solange die uns leitenden Werte und die Ziele, die wir verfolgen, ehrenhaft und lebensfördernd sind, offenbart Mut eine fürsorgliche Haltung gegenüber dem Wohlergehen der anderen. Im Gegensatz zum Feigling, der in erster Linie um seine eigene Sicherheit besorgt ist und von allen anderen verlangt, sich seinen eigenen neurotischen Gewohnheiten anzupassen, riskiert der Held bereitwillig Leib und Leben im Dienste von Werten, die die Gesellschaft voranbringen. Oder wie Alasdair Mactyre schrieb: Url

“Wenn jemand von sich behauptet, dass er sich um eine Person, eine Gemeinschaft oder eine Sache kümmert, jedoch nicht bereit ist, sich für sie oder ihn in Gefahr zu begeben, stellt er die Aufrichtigkeit seiner Sorge und seines Engagements in Frage. Der Mut, die Fähigkeit, Schaden und Gefahr für sich selbst zu riskieren, spielt im menschlichen Leben eine Rolle, weil er mit der Fürsorge und der Sorge verbunden ist.” Url

Alasdair Mactyre, After Virtue: A Study of Moral Theory

Wenn wir uns also ein erfülltes Leben wünschen, für unsere geistige Gesundheit und die Zukunft unserer Gesellschaft sorgen wollen, müssen wir mutig handeln und dürfen nicht den Altar der Sicherheit anbeten. Wir müssen im Dienste lebensfördernder Werte Risiken eingehen und dürfen nicht an der Auffassung festhalten, dass ein gutes Leben ein sicheres Leben ist. Url

“Denn glaubt mir – das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuss vom Dasein einzuernten, heißt: gefährlich leben! Baut Eure Städte an den Hängen des Vesuvs! Schickt Eure Schiffe in die unerforschten Meere!… Bald wird die Zeit vorbei sein, in der Ihr Euch damit begnügen konntet, versteckt im Wald zu leben wie ein scheues Reh!” Url

Friedrich Wilhelm Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft

Causalis-Übersetzung dieses Videos: Url

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